Satte Farben mit Tiefgang: Carlo Vagnières erweckt Räume zum Leben

19.08.2022 | Interview, Trend

Quark, Champagner-Kreide und Safran – was so verführerisch klingt, steht nicht etwa auf der Menükarte eines Sternerestaurants, sondern ist die feine Rezeptur für Wandfarbe. Für Raumhüllen, die leben und voller Energie sind. Carlo Vagnières gestaltet und restauriert Wohnräume, Museen, Praxen und Läden. Seine Farbkonzepte beruhen auf Materialkompositionen, die Räume in Schwingungen und Menschen in Resonanz versetzen. Mit seiner Firma Feinraum in der Nähe Zürichs hat er sich seit über vierzig Jahren auf die Entwicklung individueller Rezepturen spezialisiert. Warum uns homogene Kunststoffoberflächen müde machen und wie man intuitiv die richtigen Entscheidungen trifft, erklärt er im Gespräch mit Design Lodge.

Wandgestaltung, Raumgefühl und Wohlbefinden gehören für Sie untrennbar zusammen. Mehr noch: sie interagieren miteinander. Wie funktioniert das?

Räume sind unsere nächste und engste Umgebung, sie umhüllen uns. Verputzte, Farben und Oberflächenbehandlungen sind somit die Umwelt, die Wohlbefinden und Gesundheit unmittelbar beeinflusst. Die erste Frage ist dann immer, was genau umgibt uns denn da?

Zum Beispiel Safran: Es braucht ein Jahr, um zu wachsen, ist dem Wettergeschehen ausgesetzt, bevor die Blüte diesen einmaligen Geschmack hervorbringt und auch als Heilkraut verwendet wird. Wir betten diesen einzigartigen Farbstoff dann in ein Bindemittel aus Gummiarabikum, Safloröl und Harz, tragen ihn in 45 dünnen Schichten auf einen mit Kasein und Marmormehl weiß grundierten Untergrund auf. Es entsteht eine gelbe Farbe von unglaublich erheiternder Kraft mit einer Farbtiefe und Lebendigkeit, in der man baden möchte. Übrigens: Unter Farbgestaltern gilt Gelb als eine sehr schwierige Farbe.

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Lässt sich das mit herkömmlichen Farben nicht auch erreichen?

Nein. Champagner-Kreide ist über 150 Mio. Jahre alt und entsteht immer weiter. Grundlage sind Festbestandteile von Wirbeltieren und Muscheln. Es ist ein Kalk, den wir von unserem Knochenbau kennen. Wir gehen damit in Resonanz, weil es ein eigener Körperstoff ist. Genauso verhält es sich mit dem Eiweiß des Quarks, welcher vermischt mit Kreide zum Bindemittel wird. Zudem sind die Ingredienzien nicht schnell gezüchtet – sondern sie haben für ihr Wachstum genauso lange gebraucht, wie es der natürliche Vorgang vorsieht. Die Materialien haben unterschiedliche Schwingungsamplituden. Die sehr lange Schwingung des Kalkes harmoniert mit den kurzen Schwingungen von Safran und Eiweiß. Sie bilden eine für den menschlichen Körper nachvollziehbare innere biologische Entwicklung ab. Im Gegensatz dazu hat eine Industriefarbe eine Produktions-Story, mit der wir nicht in Bezug stehen, weil wir die Prozesse innerlich nicht nachvollziehen können.

Durch diese Resonanz haben die Räume also auch eine vitalisierende Wirkung?

Dazu trägt auch die stimmige Ionisierung der Luft bei. Das ist messbar. Eine Ionisierung von 60 % positiv und 40% negativ geladenen Ionen ist vergleichbar mit der Atmosphäre kurz vor einem Gewitter. Wir alle kennen das, es ist unangenehm, drückend und stickig. Eine Situation, die es übrigens häufig in Besprechungsräumen oder Museen gibt. Es macht müde und die Aufmerksamkeit lässt schneller nach. Das liegt an den Materialien der Wände, Böden und Möbel. Meistens sind es Kunststoffe, glatte und undurchlässige Oberflächen. Das zieht unsere Energie ab. Ist hingegen das Verhältnis der positiven und negativen Ionen genau andersherum – gibt das eine vitalisierende Wirkung. Das erreichen wir durch offenporige, hydrophile, also aktiv Feuchtigkeit anbindende Materialien wie etwa Kreide.

„Materialien, mit denen unser Körper in Resonanz geht“

Also gilt, je mehr Kunststoffe, umso stickiger ist das Raumklima?

Genau. Wir sind umgeben von homogenen Oberflächen und monochromen Farben. Besonders gut kann man das an Büro- und Küchenmöbeln sehen. Hier hat sich in den letzten Jahren eine glänzende und glatte Oberflächen-Ästhetik durchgesetzt. Ein „Forever Young“-Charakter. Es gibt keine Patina, keine Kratzer oder Dellen. Normaler Alterungsprozesse und damit die lesbare Zeitlinie sind ausgeschaltet. Sogenannte Gebrauchs- oder Vintage-Effekte sind allenfalls künstlich herbeigeführt.

In Japan gibt es ein ästhetisches Konzept der Wahrnehmung: Wabi-Sabi. Gegenstände werden erst dann schön, wenn sie Brüche, Alterungsprozesse und Unebenheiten integrieren. Es zählt nicht die offenkundige Schönheit, sondern die Erfahrung und Weisheit im Inneren, die sich subtiler erschließt. Die durch den Gebrauch entstandene Patina wird wertgeschätzt, wenn also das Leben durchgegangen ist. Es ist eine Kultur der Pflege des Alterungsprozesses.

Sie arbeiten auch viel mit Rosenwasser…

… damit können wir Oberflächen neutralisieren. Rosenwasser transformiert Räume und erzeugt eine fühlbar angenehme Atmosphäre. Unser Rosenwasser kommt aus biologischem Anbau. Es sind keine Monokulturen, sondern Bauern aus dem persischen Lalehazar-Tal. Sie erhalten für die Ernte faire Preise, ein stabiles Einkommen und eine Altersrente.

Bei der Wahl der Materialien und Farben für ein Projekt gehen Sie intuitiv vor. Wie ist das zu verstehen?

Die Intuition schließt den Verstand aus und kann direkt auf Wissen zurückgreifen. Ein Beispiel aus der Intuitionsforschung: Streicht man einer Gruppe von Golfprofis die Zeit, sich auf den ersten Abschlag eines Turnieres vorzubereiten, fordert sie unmittelbar und plötzlich auf, abzuschlagen, dann gelingt dem überwiegenden Teil der Golfer ein sensationeller Schlag. Der liegt sogar deutlich über den bisherigen Ergebnissen. Das gleiche Experiment mit wenig trainierten Golfern führt genau zum gegenteiligen Ergebnis. Die Profigolfer hatten keine Zeit, den Abschlag verstandesmäßig durchzuspielen, die Intuition hat die Führung übernommen und so das optimale Ergebnis erzeugt. Bei der anderen Gruppe fehlten die Übung und das Wissen – es konnte also intuitiv nicht darauf zurückgegriffen werden. Das führt uns zudem, wozu Intuition eigentlich in der Lage ist.

„Wir wissen, wenn kollektiv etwas stimmt oder eben nicht“

Was bedeutet das konkret in Ihrer Arbeit?

Wir haben uns das Wissen über die Materialien, ihre Wirkung, Entstehung und Interaktion in über vierzig Jahren angeeignet, haben experimentiert und uns mit uralten Maler- und Materialtechniken auseinandergesetzt. Wenn wir uns jetzt das erste Mal mit Architekten und Bauherren zusammensetzen, greifen wir intuitiv auf unsere Expertise zurück und wählen so die passenden Farbgruppen und Materialien aus. Vor Ort erleben dann alle Beteiligten, wie kleinste Nuancen große Veränderungen herbeiführen.

Zum Beispiel…?

Eine Nische vor einem Eingang braucht eine tiefe und warme Farbe. Es wird ein dunkles Braun gemischt, das hat einen zu kräftigen Rotanteil und kommt dadurch in der Wirkung zu stark auf den Betrachter zu. Die Farbe soll aber einen tiefen, für den Ort ganz neuen Space eröffnen. Dazu braucht es jetzt erstmal ein Blau, um mehr Tiefe zu erzeugen. Kunde und Architekt sehen, was passiert, sind daran beteiligt und es braucht vielleicht jetzt noch ein paar kleine Nuancen und der Ton wird stimmig. Es wird klanggleich, wir sehen das. Insofern kann man Harmonie teilen. Wir wissen, wenn kollektiv etwas stimmt oder eben nicht. Es gibt sowas wie eine Ordnung in unserem räumlichen und farblichen Empfinden, nach der wir uns alle sehnen. Die Menschen gehen diesen Prozess dann gerne mit, auch wenn er aufwendiger ist. So harmonisieren wir Orte und machen sie zu einer Art Stimmgabel für das Leben. Passen Material und die handwerkliche Ausführung, dann entstehen mächtige Richtkraftorte.

Sind also der Charakter und die Wirkung eines Raumes am Ende immer absolut individuell?

Ja, jeder Ort das, was er aus der Geschichte seiner Entstehung geworden ist. Beim Umbauen haben wir immer die Möglichkeit, den Lebensraum in Ordnung zu bringen und eine gute Geschichte zu schreiben. Wir haben kürzlich die Praxisräume eines Heilpraktikers restauriert. Jetzt fragen die Patienten häufig, ob sie nach der Behandlung noch einen Moment im Wartezimmer verweilen dürfen, die Wirkung sei
so angenehm.

Wenn wir also Räume mehr fühlen als nur erleben, dann wird es stimmiger und ganzheitlicher?

Ich denke, wenn wir uns selbst nicht als getrennt von dem, was wir sind und tun erleben, handeln wir ungekünstelt, natürlich und ganzheitlich. Dann kreieren wir unseren Raum.

Sie haben kürzlich ein Musterstudio eröffnet. Was umfasst das?

Da steckt unser ganzes Wissen drin. Wir arbeiten mit über hundert verschiedenen Pigmenten, diversen Arten von Kalk, Kreide, Casein, Lehm, Harzen, Wachs und Ölen, greifen auf über sechshundert selbst entwickelter Rezepturen zurück. In unserem Labor entstehen fortlaufend neue, maßgeschneiderte Produkte. Wir haben für alle Entwicklungen Musterplatten angelegt. Diese präsentieren wir nun in unserem Atelier. Bei der Eröffnung waren die Besucher begeistert und haben sich intensiv beraten lassen. Der Wunsch nach einer ausgewogenen Atmosphäre in den eigenen Räumen ist deutlich gestiegen.

Wann gibt es Feinraum-Farben im Handel zu kaufen?

Da wir absolut individuell arbeiten, gehört das Bereithalten von fertigen Farbmischungen eigentlich nicht zu unserem Konzept. Wir kooperieren jetzt mit Partnerfirmen zusammen, für die wir eine Produktlinie zum Verkauf anbieten. Anders als Farb-Chemiker, entwickeln wir unsere Produkte aus unserer Handwerkskunst heraus mit klarem Fokus auf die raumsensorische Qualität. Es gibt keine homogenisierenden Zutaten, weil wir lebendige Oberflächen schaffen – sie sind für unsere Gesundheit einfach besser. Wir sind quasi ein Dauerlaboratorium.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Natalie Häntze

Über Carlo Vagnières und Feinraum

Galt seine Leidenschaft lange dem Zeichnen von Comics, entschied sich Carlo Vagnières schließlich doch für eine Malerlehre „weil die Raumhülle den Menschen substanzieller betrifft, als ein Bild.“ Seit Mitte der 1970er Jahre setzt er sich mit natürlichen Gestaltungsmaterialien auseinander. Mitte der 1980er Jahre gründete er, zunächst noch unter anderem Namen, die heutige Manufaktur Feinraum. Fortlaufend entwickelt und verfeinert Vagnières gemeinsam mit seinem Team Techniken und Materialien. Aufträge wie die EWZ Eventhalle in Zürich und das Kornhauscafé in Bern führten zum Durchbruch. Seit Mitte der 2000er Jahre werden passende Lichtkonzepte und Leuchten entwickelt. Heute gehören neben Hotels (u.a. Hotel de Ville/ Orbe), Unternehmen (Équilibres Cressy/Genf), Praxen, Läden und Privathäuser zu seinen Kunden. Vagnières gilt als Pionier und gibt sein Wissen auch als Autor und Berater weiter.

Fotos/Video: Feinraum.ch / Carlo Vagnières

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