Wabi-Sabi: Design-Ästhetik jenseits des Vorhersehbaren

20.07.2022 | Trend

Fernöstliche Philosophien und Designkonzepte stehen hoch im Kurs, insbesondere wenn es um Wertevermittlung und Achtsamkeit geht. Kintsugi, die Kunstfertigkeit Zerbrochenes wieder zu heilen findet sich bereits in der Gestaltung von Schmuck, Möbeln und Geschirr wieder. Allerdings: Bloße Zitate verblassen schnell, fehlt das Verständnis für die tieferliegenden Zusammenhänge. Wabi-Sabi ist eines der Kernelemente der ästhetischen Empfindung in der japanischen Gesellschaft. Eine Annäherung.

Wabi-Sabi - Woher? Wohin? Weiterführende GedankenJapanische Ästhetik-Konzepte haben einen langen Entwicklungsweg hinter sich: sind gereift in Mangel- und Kriegszeiten, ihre kulturelle Bedeutung hat sich mühsam aus persönlichen Erfahrungen und Leiden geduldiger Meister herausgeschält. „Wabi-Sabi bezeichnet die Schönheit unvollkommener, vergänglicher, unkonventioneller und schlichter Dinge,“ erklärt Leonard Koren. Der US-amerikanische Künstler, Architekt und Autor gilt als profunder Kenner der japanischen Kultur.

Die Prinzipien des Wabi-Sabi finden ihren Ursprung im Zen-Buddhismus und gewinnen in der westlichen Architektur- und Designsprache immer mehr an Bedeutung. Schnelllebigkeit und sich permanent verändernde Lebenswelten lassen die Sehnsucht nach Beständigkeit und Authentizität wachsen. Nun geht es bei Wabi-Sabi weder um einen Trend noch um eine von Vintage-Effekten geprägte Designsprache. Vielmehr beschreibt diese Ästhetik die Essenz des Buddhismus: Die unperfekten, unvollständigen und unbeständigen Dinge des Lebens anzunehmen und dennoch zufrieden zu sein.

„Das ästhetisch Andere unterscheidet sich von vorherrschenden Idealen und perfekten Konventionen.“

Wabi-Sabi sei als umfassendes ästhetisches System zu sehen, erklärt Leonard Koren in seinem Buch „Wabi-Sabi – Wohin? Woher?“. Der Begriff Sabi bezeichnet „die Schönheit verwelkter Dinge, das nicht Zusammenpassende“ und gilt seit dem 13. Jahrhundert als ein Kernbegriff und künstlerisches Ideal in der japanischen Dichtung und wurde später von der Malerei, dem Theater und für die Raumgestaltung übernommen. Erst Ende des 15. Jahrhundert entstand Wabi, welches seinen Ursprung in der Tee-Zeremonie hat. Die Kriege dieser Epoche führten dazu, dass Besitztümer und wertvolle Sammlungen von Tee-Utensilien zerstört wurden. Das bis dahin als besonders wertvoll geltende makellose chinesische Porzellan musste nun durch in Japan hergestellte Gegenstände, die häufig ungleichmäßig, von rauer Struktur, weniger elegant und raffinierter waren, dafür aber preiswerter und verfügbarer, ersetzt werden. Es waren die Teemeister, die aus diesem Sammelsurium an Unperfektem einen – ungeachtet von den Nöten der Außenwelt – unkonventionell künstlerischen und philosophischen Wert entwickelten. Bewundert wurden diejenigen Meister, die es verstanden, die Zeremonie mit den originellsten Utensilien und besonderen Techniken zu zelebrieren. „Den meisten Wabi-Teemeistern war bewusst, dass die wörtliche und sinnbildliche Bedeutung von Gegenständen, Umfeld und Abläufen abhängig davon waren, womit sie verglichen oder in Beziehung gesetzt wurden. Deshalb stellte man alte Dinge neben neue, teure neben preiswerte, bekannte neben unbekannte. So wurden bäuerliche Reisschüsseln zu Teeschalen, leere Ölflaschen und Arzneibehälter zu Teedosen. Zerbrochenes oder Gesprungenes wurde instandgesetzt und einer neuen Funktion innerhalb der Tee-Zubereitung zugeordnet,“ erläutert Leonard Koren.

Die Zusammenführung des Wortes Wabi-Sabi geht auf den japanischen Tee-Meister Sen no Rikyu zurück. Als dieser einen Garten gesäubert und in perfekte Ordnung gebracht hatte, schüttelte er einen Kirschbaum, damit die Blätter willkürlich in den Garten fielen. Erst die Vereinigung mit dem Unperfekten, dem Überraschenden vervollständigte das Bild. Das ästhetisch Andere unterscheidet sich grundsätzlich von vorherrschenden Idealen und perfekten Konventionen.

„Ästhetik entzieht sich dem Digitalen.“

Allerdings geht es nicht um eine Aneinanderreihung origineller Aktionen – vielmehr, so Koren müssen die Komponenten derart miteinander verwoben werden, dass sie in wechselseitige Beziehung treten. Darum stelle sich auch die Frage, ob neue Dinge, die absichtlich zerstört wurden, damit sie gealtert und abgenutzt wirken, wirklich der Wabi-Sabi-Philosophie entsprächen. Auch entziehe sich diese Ästhetik dem Digitalen, weiß Koren: Sie beruhe auf anstrengungslosen, ununterbrochenen Wechselbeziehungen mit realen Dingen in einer wirklichen Welt. Alles Digitale hingegen müsse in einer binären Struktur von eins und null kodiert werden. Zwischen eins und null ist nichts. Genau in diesem Zwischenraum – der Unendlichkeit – sei Wabi-Sabi angesiedelt. Metaphorisch betrachtet ist es ein ganzes Spektrum von Grautönen.(nh)

„Wabi-Sabi Woher? Wohin? Weiterführende Gedanken“ von Leonard Koren, erschienen im Wasmuth & Zohlen Verlag, ist ein besonderes Buch. Der umfassende Einblick in die Entwicklung und Philosophie von Wabi-Sabi findet zugleich Ausdruck in der Gestaltung des Buches: Verzichtet wurde auf einen griffigen Titel, bunte Farben sowie Autorennennung auf dem Buchdeckel. Auch fehlen dekorative Ausschmückungen. Die Bildsprache ist reduziert und in schwarz/weiß gehalten. Gedruckt wurde auf ungestrichenem Papier mit leichter Griffigkeit. Ein wunderbares kleines Buch, egal, welche Seite sich zufällig aufschlägt, man kommt sofort in den Lesefluss und möchte nicht mehr aufhören.

Vom gleichen Autor ebenfalls bei Wasmuth & Zohlen erschienen ist „Wabi-Sabi für Künstler, Architekten und Designer“

Zitate und Erläuterungen des Autors Leonard Koren sind mit freundlicher Genehmigung des Verlages Wasmuth & Zohlen dem Buch entnommen.

Leonard Koren

1948 in New York geboren, studierte an der University of California Architektur und Stadtplanung; war Mitbegründer der Fine Arts Squad, einer Gruppe von Künstlern, spezialisiert auf Trompe-l’oeil-Malerei, die in Los Angeles und Paris großformatige Wandbilder malte. Beschäftigte sich mit der Gestaltung von Baderäumen und veröffentlichte Bücher zu diesem Thema. 1976 gründete Koren das avantgardistische Magazin WET the Magazine of Gourmet Bathing. Seit Anfang der 1980er Jahre intensive Auseinandersetzung mit der japanischen Kultur, produziert Videos für das japanische Fernsehen und schreibt Kolumnen für das Lifestylemagazin Brutus. Seit den 1990er Jahren bis heute regelmäßige Buchveröffentlichungen zu Design- und Ästhetik-Themen.

Newsletter

Newsletter

Abonnieren Sie unseren Newsletter und wir informieren Sie über neue Beiträge auf Design Lodge.

Erhalten Sie außerdem exklusiven kostenlosen Zugang zu Premiumbeiträgen.

Wir versenden unseren Newsletter nicht öfter als alle 4–5 Wochen.

Vielen Dank!