Helmut Newton als sinnliches Erlebnis. Ein Interview mit Stiftungskurator Matthias Harder.
Etwa 300 Werke Helmut Newtons, von denen die Hälfte erstmalig gezeigt werden, handgeschriebene Notizen, Polaroids und Magazine sind in der elegant kuratierten Ausstellung im Museum für Fotografie in Berlin zu sehen. Was die Ausstellung besonders macht und warum Fotografie auch heute noch eine besondere Aura umgibt, erklärt Matthias Harder, Direktor der Helmut-Newton-Stiftung.
Was unterscheidet diese Retrospektive von bisherigen Helmut Newton Ausstellungen? Warum muss man sie gesehen haben?
Die Ausstellung „Helmut Newton. Legacy“ ist chronologisch angeordnet; die Besucher:innen können also das Werk von Helmut Newton in seiner Entstehung nachvollziehen, und das zum ersten Mal systematisch. Zahlreiche vergessene oder noch nie ausgestellte Bildmotive haben wir aus dem hauseigenen Stiftungsarchiv ausgewählt, so dass Newtons Bildikonen neben eben solchen Neuentdeckungen präsentiert werden. Es beginnt im ersten Ausstellungsraum mit den beiden Selbstporträts, die der damals 16jährige angehende Fotograf im Berliner Studio der renommierten Modefotografin Yva machte, der er für zwei Jahre assistierte, bevor er seine Heimatstadt 1938 auf der Flucht vor den Nazis verlassen musste. Und der Ausstellungsparcours endet mit den späten Modebildern der 90er- und 00er-Jahre. Bis zu seinem Tod im Januar 2004 wurde Newton nämlich von den weltweit renommiertesten Magazinen und Modedesignern beauftragt, die aktuellen Modeentwürfe zu visualisieren. Das war in dem schnelllebigen Modebusiness eine große Ausnahme, doch Newton war stets auf der Höhe des Zeitgeists und ihm manchmal vielleicht sogar voraus, auch noch als 83jähriger.
„Entstehung bestimmter Motive nachspüren“
In den Ausstellungsräumen unserer Stiftung stehen überdies mehrere Vitrinen, in denen erstmals auch anhand von Foto-Kontaktbögen, Polaroids, Magazinveröffentlichungen, handschriftlichen Notizen von Newton und Ausstellungsansichten früherer Museumspräsentationen die Werkentwicklung nachvollzogen werden kann. Wir können – neben der eigentlichen Rezeption der ausgestellten Fotoabzüge, ob gerahmt oder ungerahmt – auch Newtons Auswahlkriterien für ein bestimmtes Motiv nachvollziehen oder über Distributionswege und die „richtigen“ Bildformate bestimmter Fotografien nachsinnen. All dies macht den Ausstellungsbesuch zu einem so augenöffnenden wie sinnlichen Erlebnis.
Das Smartphone macht es möglich, alles und jeden sofort zu fotografieren und über diverse Kanäle einer größeren Zielgruppe als jemals zuvor zugänglich zu machen. Hat die Fotografie dadurch an Magie verloren?
Nein, denn wir müssen ja zwischen den privaten Bildern unterscheiden, die wir mit unseren Freunden oder Fans teilen, und dem Besuch einer Ausstellung eines Fotoklassikers wie Helmut Newton, Irving Penn oder Henri Cartier-Bresson. Das Medium Fotografie feiert bald seinen 200. Geburtstag, und seit seiner Erfindung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts existierten die unterschiedlichsten Genres und Verwendungsweisen nebeneinander; das hat sich im 20. Jahrhundert weiter ausdifferenziert. Und seit der Erfindung des Internets hat sich die Distribution fotografischer Bilder und ihre globale Zugänglichkeit in Millisekunden radikal verändert. Die allerwenigsten der Milliarden Fotografien, die täglich mit unseren Smartphones entstehen und zu bekannten oder unbekannten Rezipienten „hochgeladen“ werden, werden auch als Papierabzüge produziert. Das Haptische einer Fotografie in einem bestimmten Bildformat und einer guten Printqualität hat also noch immer eine Aura und Magie, die auch im Jahr 2022 zu spüren ist, von den Fotografie-Sammler:innen ebenso wie von den vielen Besucher:innen unserer Ausstellungen, wie ich es vor Ort bemerke.
„von ungewöhnlichen Bild-Ideen überzeugen“
Ist die Zeit der stilbildenden Fotografen wie Helmut Newton (u.a.) vorbei -oder braucht es sie gerade jetzt wieder, weil sich ändernde Zeiten besondere und neue Blickwinkel erfordern?
Wenn ein Fotograf so stilbildend wird oder geworden ist wie Helmut Newton, Guy Bourdin, Annie Leibovitz, Nan Goldin, Andreas Gursky, Sebastião Salgado, Juergen Teller oder Wolfgang Tillmans, jeder und jede auf ihre Art, kommen verschiedene Voraussetzungen zusammen. Er oder sie muss zunächst eine individuelle, unverwechselbare Bildsprache entwickeln und die „andere Seite“ von den eigenen, häufig ungewöhnlichen Bildideen überzeugen, denn erst durch die entsprechenden Aufträge und Veröffentlichungen wächst die Reputation. Anschließend müssen sie einen langen Atem haben und sich immer wieder thematisch und formal erneuern. Jedes Genre, von der Landschaft- über die Porträt- bis zur Akt-Fotografie, hat seine eigenen Gesetze, auf dem Buch- oder Kunstmarkt sowie im Ausstellungswesen. Heute ist es übrigens gleichgültig, ob Bilder analog oder digital oder als Mischform entstehen. Ich bin sicher, dass uns auch in Zukunft einflussreiche und stilbildende Fotografen und Fotografinnen mit ihrer visuellen Welterklärung begeistern oder zum Nachdenken anregen werden.
Die Ausstellung kommt erfrischend ohne Video-Sequenzen aus. Das Werk Newtons wird dem Betrachter u.a. durch Modemagazine, Fax-Schreiben und Outfits, die er zu verschiedenen Anlässen trug, nähergebracht. Was war die handlungsleitende Idee bei der Entwicklung des Ausstellungskonzeptes?
Im Vorfeld dieser Retrospektive stand eine monatelange Recherche unseres Archivs. Und dort haben wir bestimmte Schätze gehoben, die Newtons Werk für die Ausstellungsbesucher:innen neu kontextualisieren. Dazu gehört auch das von Ihnen erwähnte Material, und das war für meine Ausstellungskonzeption von Beginn an zentral. Die nächste Ausstellung im Sommer 2022 ist dem Thema „Hollywood“ gewidmet und für deren Konzeption arbeite ich übrigens momentan ähnlich – ich spüre vergessene und unbekannte Aufnahmen von Newton aus Hollywood und Los Angeles auf und kombiniere sie innerhalb der Gruppenausstellung mit dem Werk von zehn anderen Fotografen und Fotografinnen.
Welchem lebenden Fotografen/Fotografin würden Sie gerne eine Ausstellung widmen?
Helmut Newton selbst hat in einem kurzen Statement die Ziele für seine Stiftung formuliert, u.a. sollte dieser Ort auch für „andere Fotografen und Künstler“ offenstehen. Und so haben wir seit 2006 einige Kolleg:innen von Newton eingeladen. Es begann mit Vera von Lehndorff und ihren Selbstporträts, die unter dem Namen Veruschka zum ersten „Supermodel“ wurde, noch bevor es diesen Begriff überhaupt gab. Auch Newton hatte mir ihr mehrfach gearbeitet. In der Folge haben wir herausragende, berühmte Fotografen und Künstler ausgestellt, jeweils mit einer größeren Werkgruppe, darunter Ralph Gibson, Larry Clark, David LaChapelle, Frank Horvat, Joel Meyerowitz, Sheila Metzner, Cindy Sherman, Jürgen Klauke oder Vanessa Beecroft. Inzwischen mache ich das Ausstellungsprogramm allein, setze die Themen und lade entsprechend Kollegen oder Kolleginnen ein. Es gibt Dutzende Namen auf den von mir vorbereitenden Listen, auf die ich mich jetzt schon freue, da ich ihre Bildsprache so sehr schätze. In der nächsten Ausstellung werden es u.a. Anton Corbijn oder Philip-Lorca diCorcia sein. Andere Fotografen und Fotografinnen, deren Werke wir in die „Hollywood“-Ausstellung aufnehmen werden, sind leider bereits verstorben, wie etwa Larry Sultan oder Steve Schapiro. In solchen Fällen arbeiten wir mit den entsprechenden Nachlässen oder betreuenden Galerien zusammen. Und so geht es hier in der Helmut Newton Stiftung auch in den nächsten Jahren spannend weiter, das kann ich versprechen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Die Ausstellung HELMUT NEWTON. LEGACY läuft noch bis zum 22. Mai 2022 im Museum für Fotografie in Berlin. Gleich im Anschluss startet die Gruppenausstellung HOLLYWOOD (vom 2.6.2022 bis zum 20.11.2022). Gezeigt werden unbekannte und vergessene Aufnahmen Helmut Newtons, kombiniert mit Werken weiterer Fotokünstler.
www.helmut-newton-foundation.org
Begleitend zur Ausstellung gibt es ein bei Taschen erschienenes Katalogbuch, inhaltlich ist es aufgebaut wie die Ausstellung und somit auch für diejenigen spannend, die nicht nach Berlin reisen können.
10_Helmut Newton Karl Lagerfeld at Chanel Paris 1983_copyright Helmut Newton Estate_courtesy Helmut Newton Foundation (002)
8_Helmut Newton Cindy Crawford US Vogue Monte Carlo 1991_copyright Helmut Newton Estate_courtesy Helmut Newton Foundation
7_Helmut Newton Woman examining Man Calvin Klein US Vogue St. Tropez 1975_copyright Helmut Newton Estate_courtesy Helmut Newton Foundation
Fotos:
Helmut Newton Thierry Mugler Fashion US Vogue Monte Carlo 1995, Helmut Newton Estate Courtesy Helmut Newton Foundation
Helmut Newton Carla Bruni Blumarine Nice 1993 copyright Helmut Newton Estate courtesy Helmut Newton Foundation
Helmut Newton Hollywood 1996 copyright Alice Springs courtesy Helmut Newton Foundation
Helmut Newton Woman examining Man Calvin Klein US Vogue St. Tropez 1975 copyright Helmut Newton Estate courtesy Helmut Newton Foundation
Helmut Newton Karl Lagerfeld at Chanel Paris 1983 copyright Helmut Newton Estate courtesy Helmut Newton Foundation
Helmut Newton In a Hotel de Passe Self-Portrait with Model Paris 1971 copyright Helmut Newton Estate courtesy Helmut Newton Foundation
Helmut Newton Cindy Crawford US Vogue Monte Carlo 1991 copyright Helmut Newton Estate courtesy Helmut Newton Foundation
Porträt Matthias Harder: David von Becker
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